Vater
Etwa zu dieser Zeit hat mir deshalb mein Vater Bücher geschenkt. Mein erstes Buch - es hat ein Leben lang auf mich gewirkt - war das Anschauungsbuch »Orbis pictus« des Bischofs der Mährischen Brüdergemeinde Jan Amos Comenius.
In diesem Buch führte er alles, was seiner Meinung nach existierte, in Bildern der Jugend vor Augen. Zu jeder Abbildung konnte man in vier Sprachen die Erklärungen lernen. Ich hielt mich allerdings erst an die Bilder; denn das war die wirkliche Welt, die auf mich wartete. Das ließ mich die Märchenwelt und meine Melusine, deren Holzbein hoffentlich im Wasser zu einem Fischschwanz wuchs, vergessen. Aus dem »Orbis pictus« lernte ich, wie die Welt ist und wie sie sein soll, so daß sie für Menschen wohnlich wird. Jan Amos Comenius war ein Humanist.
Ein anderes Buch, das ich von meinem Vater bekam, war eine illustrierte Ausgabe der griechischen Sagen. Auch hier beeindruckten mich die Bilder mehr als die Texte; das Buchstabieren ging zu langsam.
Zu Weihnachten erhielt ich auch einen Farbenkasten. Die Farben haben nach Honig geschmeckt; ich habe an dem Pinsel oft geschleckt, während ich die schwarzweißen Bilder in dem Buch der Sagen der Antike gefärbt habe. Im Leben ist alles farbig, deshalb nahm ich zum Ausmalen die Farben, die ich am liebsten hatte: Rot, Grün, Gelb und Blau. Malen war meine Lieblingsbeschäftigung, wenn ich nach Hause kam und meine Schulaufgaben erledigt hatte.
Oskar Kokoschka 2008: 38 - 39
Mein Vater war mir nie sehr nahe, doch hat er er in einer ganz anderen Weise als meine Mutter auf mich gewirkt. Er hat sich nicht mit Menschen, sondern mit kostbaren Dingen, Gold, Juwelen, Edelsteinen und Schmelzarbeiten beschäftigt. Er war ein gelernter Goldschmied, in dessen Familie das Kunsthandwerk Tradition war. … Sein Gewerbe hatte er aufgeben müssen. Das war zur Zeit des großen Staatsbankrotts in Österreich, eine Folge des Krieges in Bosnien, einer vormals türkischen Provinz, die auf einer Friedenskonferenz der Großmächte Österreich zur Verwaltung zugeteilt wurde. … Heute weiß ich, daß viel einschneidender als der Krieg damals die plötzliche Industrialisierung auf breiter Ebene eine gesellschaftliche Veränderung verursacht hat. Die Maschine hat den Handwerker verdrängt. Kostbare Dinge wurden nicht mehr mit der Hand gemacht, die Produkte vom laufenden Band veränderten den Geschmack. So kam das Ende einer erlernten Tätigkeit für meinen Vater, denn wer kann den Lauf der Dinge ändern. Er wurde verschlossen, war selten zu Hause, als ob er dort keine rechte Freude mehr fände.
Idem: 39 - 40