Mutter

Das Gefühl zur Mutter ist ursprünglicher, intensiver, näher. Zuerst sieht man die Mutter gar nicht, man fühlt sie nur. Man lebt ja noch von der Mutter, auch wenn man ihren Leib verlassen hat, von ihrer Wärme, Berührung, Zärtlichkeit, wie von ihrer Milch.

Wen der Mensch im Zeitalter der Technik seinen Lebenszweck bloß auf seinem Arbeitsplatz in der Güterproduktion findet - ein Abfall der Zivilisation im Mülleimer -, ist es verständlich, daß die Jugend heute gegen gesellschaftliche Einrichtungen rebelliert und, entfremdet, Sex mit Liebe verwechselt. Aber Sex kann Liebe nicht ersetzen.

Meine Mutter liebte ich. Ich verdanke ihr mein Dasein. Menschen in Not trösten sich seit jeher mit der Hoffnung auf eine von Göttern oder zumindest Halbgöttern, Übermenschen, nicht von ihnen selber erschaffenen Welt. Die ideale Welt aber kommt immer erst nach dem Tod. Leider haben die Ewigen es nicht so eilig wie wir, sie kennen keinen Fünfjahresplan.

Oskar Kokoschka 2008: 32

[Meine Mutter] hatte die Gabe des Zweiten Gesichts. Sie konnte Dinge voraussagen, die nachher tatsächlich eintrafen. … Mancher wird dazu sagen: Das gibt es ja gar nicht, dieses Zweite Gesicht! Die Welt sieht so aus wie man sie fotografieren kann. Dahinter gibt es nichts weiter. Die es besser wissen, die Grundgescheiten, dozieren, daß der Mensch bloß ein Produkt der materiellen Umwelt sei. Ich aber frage mich: Wozu weglaufen von der Wirklichkeit? Wo hat die Wirklichkeit ihre Grenzen, wenn sogar ein großer Mathematiker in seiner berühmten Relativitätstheorie die herkömmlichen Begriffe von Zeit und Masse recht problematisch erscheinen läßt?

Ich glaube statt dessen, daß es eine Welt, in der wir uns zu Hause fühlen, erst gibt mit dem Menschen, der sie erlebt. Der Wurm sieht die Welt anders, führ ihn ist sie nicht aus demselben Stoff gemacht wie für uns. Nur die menschliche Seele erlaubt, dank ihrer Plastizität, die ungeheuerliche Möglichkeit des Seins zu begreifen.

Wäre sodann das Leben ein Traum und deshalb die Welt, wie sie uns erscheint, zeitbedingt?

Idem: 41 - 42