„In Auschwitz war mir
Gott ein Sakrileg”
Transkript eines unvergesslichen Gesprächs mit Lucie Begov vom 3. August 1986 vor laufendem Tonbandrekorder. Ihre suchende Ausdrucksweise entspricht der Erforschung ihrer Erinnerung und ihres Gewissens nach rechten Worten. Sie schrieb ihre Auschwitzerfahrungen früh auf, veröffentlichte sie mit ihrer Schlussfolgerung aber erst 1983. Trotz schonungsloser Wahrheitsliebe verspürte ich in ihrem Buch weder Hass noch Bitterkeit. Gefragt, ob sie Nationalsozialisten nicht gehasst habe, antwortete sie: „Und ob!”, und wie sie den Hass überwunden habe: „Nur durch das Gebet”. Lucie Begov wurde am 6. Mai 1990 in Wien begraben.
Mit Dank und im Gedenken an Friedl Großkopf, die die Tonbandkassette austippte. Zahlen zwischen Bindestrichen, - 1 -, erinnern ihre Seiten und erleichtern Textreferenz. Gelegentliche Anmerkungen und Ergänzungen stehen zwischen [eckigen Klammern]. Für Funktion und Inhalt der Verknüpfungen, Web-Links, kann ich keine Verantwortung übernehmen,
F. Kalab, 4. Februar 2015
„Das kann doch nicht Dein Ernst sein”
Lucie Begov: ... das kann doch nicht mein Ernst sein. ’S ist köstlich. Aber die Bilder sind gut, ich darf zwischen Euch stehen. Ich bin winzig klein. Mein Gott! Wo sind die andern Damen?
Franz Kalab: Die sind schon auch drauf.
Aha, aber ... das ist nicht einmal so sehr schlecht.
Ich glaub, die Fotos sind gut geworden.
Finden Sie? Lächeln hätt ich nicht sollen. Fürchterlich. Wie alt ich ausschaue’.
Ach, Sie schauen so frisch aus, wenn Sie lachen. Ha, ha!
Schön gemacht. Mmm, das ist nicht schlecht.
Das find ich schrecklich. Ha, ha!
Ha! Aber das ist kein schlechtes Bild. Das geht noch irgendwie. Jedenfalls ist das eine sehr...
Das gefällt mir sehr gut.
Ja, mmm, das ist sehr gut, das is’ sehr gut. Das ist zu verwischt.
Mmm...
Sehr gut. Da schau ich schon sehr abgetakelt aus. Aber das ist das kleinste Problem, das Älterwerden. Das ist die...
Moment...
Die... ist ganz toll.
Doch, doch.
Die ist gut, ja, gut auch. Ja. Auf jeden Fall eine sehr nette Erinnerung an diesen Tag.
Hier sind auch noch ein paar Bilder.
Hahaha! Da kenn ich mich überhaupt nicht, muss ich ihnen sagen. Nur die Bluse erkenn ich.
(Alle drei lachen.)
Aber so schau’n Sie, wenn Sie kritisch zuhören.
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Den glaub ich... Bitte, wie wir im Jahre 1952 hier eingezogen sind und diesen weißen Schrank hier draußen mit dem Spiegel gekauft haben, hab’n wir doch fast alles, bis auf diese Garnitur, haben wir ja alles neu kaufen müssen. Und hat meine Schwester gesagt: „Lucie, alte Weiberl werden einmal da heraus schauen.” Ha, ha! Aber leider... Aber oft denk ich grad: alte Weiberl werden einmal da herausschauen. Ha, ha. Wo finden Sie mich am wenigsten arg?
Ha...
Ineke van Dam: Das ist arg.
Nein!
Franz Kalab: Also mir gefällt das Foto so gut, wo Sie so lachen. Wo der Sie umarmt und Sie lach’n so. Das mag ich sehr.
Das eine, wo wir zu dritt...
Ich habe einige Fotos doppelt machen lassen, weil ich Ihnen gerne einige gegeben hätte.
Das lachende ist vielleicht noch das einzige. Da sieht man wenigstens keine Zähne.
Ja, ja! Das gefällt mir am besten.
Das gefällt mir eigentlich am besten.
Die Frau Eeva Huber, die hat einige Dias jetzt auch mit auf ihrer Vortragsreise. [Frau Huber aus der Pfingstgemeinde half In Wien mittellosen jüdischen Emigranten aus Russland.]
Das ist auch nicht schlecht. Da erkenn ich mich wenigstens. Wissen Sie Warum? Ich habe ja eine Lähmung gehabt linksseitig. Und wenn ich... Auf der Fotografie merkt man das, wissen Sie... Von eh und je, da haben Fotografen sehr achtgeben müssen bei mir. Und hier sehen Sie die rechte Seite. Deshalb is’ es besser. Ja, ja. Das is’ das einzige Foto. Das, das möcht ich mir wünschen. Das und das Lachende.
Ich glaub nicht... Vom Lachenden, da hab ich welche machen lassen.
Ja, das Lachende ist sehr gut.
Das kann ich gleich da lassen.
Bitte, das ist schon...
Das andere ist, müsste Frau Huber... Wenn Frau Huber zurückkommt...
Ja, was hat Sie das gekostet?
Das hat wenig gekostet.
Das hat nichts gekostet? Aber ich möcht mich revanchieren. Weil das... Nämlich die Situation ist so nett und da oben ist der...
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Das hab ich mir auch gedacht. Wenn Sie das vielleicht wollen?
Das schon. Schon wegen der Erinnerung.
Wo die ganze Gruppe drauf ist...
Bitte?
Ich sagte, die Frau Huber bekommen Sie auch noch einmal...
Ja, ja, natürlich, wo ich... Wo, wo auf welcher sind sie?
Das sind alles Fotos von mir. Daher bin ich nirgends drauf.
Mmm, ich werde vielleicht, ich werde’ vielleicht... Das ist nicht so schlecht. Da bin ich zu erkennen. Und dieses dort ist gut. Das eine... Das hier ist ganz gut. Ja.
Da müssen wir warten, bis sie wieder zurückkommt und dann können wir Kopien machen.
Ja, ja, ist da, ist da! Da sind alle drauf...
Alle, außer...
Nur die. Da ist der Groß, da ist der Oberrabbiner. [Paul Groß, IKG Präsident 1987-1998; Oberrabbiner Prof. Dr. Paul Chaim Eisenberg.] Ja, und da bin ich irgendwie zu erkennen. Danke vielmals. Das möcht ich, darf ich doch lesen?
Ineke van Dam: Das Gruppenfoto für die...
Das Gruppenfoto. Nicht wahr? Dieses hier.
Danke.
Ja, ja! Und dieses ist lustig. Weil, weil... Bitte das, auf jeden Fall... Auf jeden Fall ist die Situation eine komische. Ich weiß nicht, warum wir so lachen. Wird der Pfeifer denn das bringen? [Karl Pfeifer, Chefredakteur des offiziellen Organs der IKG, Die Gemeinde]
Franz Kalab: Ich war diese Woche beim Oberrabbiner, kurz, und habe einen Kommentar geholt [zum Buch Esther, Purimfest]. Und da hat er mich gebeten, dass ich den Bericht von der Frau Hubert an Karl Pfeifer schicke, und auch Fotos. Und das werde’ ich machen.
Ja, wenn es besser...
Das Gruppenfoto, habe ich mir gedacht.
Ja, das Gruppenfoto. Dieses hier. Ja, ja, wenn ich nicht zu arg drauf ausschau’.
Ineke van Dam: Nein! Das ist schön. Ich hab’s hier. Sie sind da ganz beschützt durch die zwei großen Männer.
Bitte?
Ganz beschützt, durch diese großen Männer.
Eben, ja, ja. Dann werden Sie mir zeigen wo das Bild ist...
Aktion
„Christen für Juden”
[Für sich murmelnd lesend:] 25. Juli 86, den Erlös der von ihm... Aktion „Christen für Juden” dem Oberrabbiner...
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Sehr gut habt ihr das gemacht. Kurz und sehr schön. Das muss ich sagen, muss Ihnen sagen. Das war doch ein Erlebnis, war ein Erlebnis. Und irgendwie hab ich das Gefühl, dass da doch die Hand Gottes mit war. Das war doch eine ganz eigenartige Sache zwischen Euch und mir. Das war eine eigenartige Sache. Ja, Stellen Sie sich vor. Sie haben mir damals noch... gesehen haben. Wie wir uns das erste Mal gesehen haben, persönlich gesprochen haben, haben, hat mir der Franz noch gesagt, noch gesagt, ich bin die erste Jüdin, die aufgeschlossen ist ihm gegenüber. Da hab ich mir gedacht, das ist merkwürdig. Weil im Allgemeinen sind doch, sind die Juden doch, wenn sie... Wahrscheinlich sind Sie nicht an die richtigen gekommen, hab ich mir gedacht. Also war das tatsächlich Gottes Fügung.
Franz Kalab: Ich hab vorher... eine Dame kennen gelernt. Dieses Echo hab ich nicht erlebt. Ich hab eher das Gefühl bekommen, dass ich lästig bin.
Das ist interessant... Na und jetzt fühlen Sie sich zu Hause bei uns.
Sehr.
Nicht wahr?
Das hab ich ja gerade gesagt, dass Sie uns fast adoptiert haben...
[Lachend:] Ja, ja, ha! Ja, ja, sehr gut, sehr gut.
Hier und da, da. Das sind aber die Fotos, die sie gefragt haben. Das und das. Diese beiden.
„Antisemitismus als Bedrohung der nichtjüdischen Welt”
Ah ja, ja, ja. Das haben Sie mir gezeigt. Gut. Müssen wir noch, müssen wir noch... Auf weltlicher Basis, auf weltlicher Basis müssen wir diesen Antisemitismus bekämpfen, und als Gefahr, als Bedrohung der nichtjüdischen Welt den Menschen bewusst machen.
Aber wie kann das geschehen?
Nur durch Erzählungen von Vergangenheit. Wie es war. Sie haben mir einmal gesagt, meine Frage war: wie konnte es dazu [zum Holocaust] kommen? Ohne Antisemitismus wäre das nicht möglich gewesen. Ohne Antisemitismus wäre auch der [Kurt] Waldheim (1918 - 2007) nicht gewesen. Das muss verschwinden und zwar nicht nur in unserem Interesse. Ich hab der Eeva Huber gesagt, dass, sie hat mich gefragt, ob sich diesbezüglich, in Bezug auf Antisemitismus und so weiter, etwas geändert hat. Hab’ ich gesagt: Nein! Es hat sich nichts geändert. Aber das jüdische Volk hat sich geändert. Die Juden haben sich geändert. Die Juden sind die einzigen. Das jüdische Volk ist das einzige, nach meiner Ansicht, dass aus der Vergangenheit auch gelernt hat.
Aus der jüngeren Vergangenheit?
Aus der Zeitgeschichte. Aus dem, was ich erlebt hab. Heute ist die Stellung... Wissen Sie, ich war doch eine hundertprozentige Assimilantin.
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Ich war überrascht, wie der jüdische Staat entstanden ist. Stellen Sie sich das vor! Ich war überrascht, obwohl ich in einem religiösen, in einem religiösen Milieu aufgewachsen bin, in einem religiösen. Nicht orthodox, einem religiösem Milieu. Da ist gefeiert worden und man hat einander gesagt: im nächsten Jahr in Jerusalem. Das hat man einander automatisch gesagt. Aber ich hab den Sinn nicht verstanden. Ich war eine absolute, ich hab geglaubt, eine absolute Wienerin zu sein, so eine Assimilantin. Und, nach ... [Auschwitz], wie ich dann zurückgekommen bin... Schon während der Hitlerzeit wurde mir mein Judentum bewusst. Und das hab ich auch geschildert in meinem [Buch Das] Verkannte Volk. Aber wie ich dann zurückgekommen bin, [bin ich] zum Zionismus gestoßen. Und dann hab ich alles, alles... Plötzlich hat sich eine ... Das ist eine ganz andere Welt! Ich stehe heute, ich stehe heute zu den europäischen Völkern ganz anders als ich früher gestanden bin. Auch zu, zu den Österreichern.
Wie hat sich das gewandelt? Abgesehen davon, dass Sie selbst sich jetzt bewusst geworden sind?
„Wenn da ein Hitler kommt schlittern sie in ein neues Abenteuer”
Schau’n Sie. Zum Beispiel. Ich seh’ heute den Antisemitismus. Ich hab ihn früher nicht erkannt. Nicht einmal, es war... Es wurde mir überhaupt nicht bewusst, dass es einen Antisemitismus gibt. Seinerzeit, ich hab ihn nicht gespürt. Heute weiß ich, dass die Leute von meinem Volk sich eine gewisse Vorstellung machen. Und diese Vorstellung ist falsch, sie ist verlogen. Und die Leute tun mir leid, dass sie daran glauben, dass sie es für wahr halten. Aber ich, es ist eine Distanz zwischen ihnen und mir. Zwischen der österreichischen Bevölkerung und mir steht der Antisemitismus. Aber er berührt mich nicht. Ich empfinde ihn als die Angelegenheit dieser Leute und denke mir, wenn da ein Hitler kommt, schlittern sie in ein neues Abenteuer hinein. An mich denk ich überhaupt nicht dabei. Weil ja, für mich ist Israel da. Israel ist meine Bindung. Ich hab der Eeva Huber gesagt - es ist keine Phrase, wenn ich sagte - würd’ ich meinen Kopf geben. Aber die, aber da, zum Beispiel, während ich mich doch in Wien mit der Umwelt und der Umgebung, die Erinnerung an die Kindheit... Ich habe das auch geschildert, was ich, glaub ich, auch Euch geschildert hab. Wenn ich zum Beispiel in den Volksgarten geh, seh’ ich mich so als Kind beim Theseustempel bei den Treppen dort spielen. Und wenn ich die Allee hinuntergeh’, dann seh’ ich, dann duftet [es nach] Jugend und allem möglichen, nur nicht nach Rosen... Aber das Zusammengehörig-keitsgefühl mit dem Volk, das is’ verschwunden. Ich hab nicht, ich hab kein Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem österreichischen Volk.
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Die Politik, zum Beispiel, betrachte ich sie, berührt mich nicht als Österreicherin. Die berührt mich als österreichische Jüdin. Wissen Sie, ich sah, ich seh’ die Fehler zum Beispiel die gemacht werden objektiv. Aber es is’ nicht, es ist nicht mein ... Ich bin eine Jüdin in Österreich, eine in Österreich lebende. Und das macht der Antisemitismus der Umwelt, den ich heute kenn’ in allen seinen Schattierungen. Es gibt eine harmlose Form. Es gibt... Meine... Mir hat einmal, mich hat einmal ein, ein, damals war er Präsident der Aktion, er hatte mir den Vorwurf gemacht, dass ich zu links gerichtet bin. Insofern, hab ich ehrlich gesagt, ich kenn keine Parteien. Meine Landsleute sind die Judenfreunde hier. Mit denen fühl’ ich mich, mit denen fühl ich mich wie mit meinen Landsleuten. Mit der Bevölkerung hab ich keinen, [habe ich] nicht diesen Kontakt. Denn gewisse Vorsicht, ich weiß ganz genau, und ich muss mit einem Menschen [nur] zehn Worte sprechen und ich weiß, wo er steht.
Ja, der Antisemitismus ist furchtbar, ist furchtbar. Das österreichische Volk ist ein antisemitisches Volk. Der Ehrlich sagt zum Beispiel: sind antisemitischer wie die Deutschen. Es ist kein Zufall, dass Hitler in einer österreichischen Provinz geboren wurde, behauptet er. Ein antisemitisches Volk, leider.
Die Kultusgemeinde hat es in einer, hat es in einer, Sie erinnern sich, damals in einer großen Annonce... Etwas hat sie drucken lassen. Da hat in Österreich... sehr in Schutz [genommen:], es ist kein antisemitisches Volk. [Es ist] unbewusst, die Leute wissen es nicht. Die Leute halten das Feindbild, das ihnen zweiundfünfzig, in zweiundfünfzig Generationen hindurch eingedrillt wurde, halten sie und müssen sie für wahr halten. Sie halten es für wahr. Sie wissen, dass es wahr ist. Das ist ganz klar.
Da hab ich gleich zwei Fragen. Das erste ist, woran merken Sie das an zehn Worten, die Sie mit Men-schen wechseln...
Wie er mit mir spricht.
Das setzt aber voraus, dass er weiß, was...
Ja, ja, ja. Er ändert seine Art, mit mir zu sprechen, wenn er weiß, dass ich ohnehin das hören will. Das hab ich auch schon bemerkt. Das war zum Beispiel im Anfang, wenn man nicht weiß, dass ich Jüdin bin, spricht man anders [wie] wenn man’s dann erkannt hat. Also ich geb’ mich oft schwer zu erkennen. Aber nicht nur wenn gerade die Rede darauf kommt. Und, also hier in der Umgebung, natürlich wissen es alle. Aber diese Sachen die ich da in der Sommerfrische erlebt hab voriges Jahr, das war doch eigenartig, nicht. Am Nebentisch war ein Ehepaar. Hat mir die Frau erzählt, ich hab Euch das erzählt, glaub ich.
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Sie erinnern sich daran, nicht?
Nicht ganz genau.
Nicht ganz genau. Die Frau, hab ich mir... Ich schau auch nicht jüdisch aus. Und man ist ins Gespräch gekommen. Und am zweiten oder dritten Tag hat sie bei einer, ich weiß nicht wie es dazu gekommen ist - ich glaube wir haben von der Jugend gesprochen - und da hat sie gesagt: ja wissen Sie, ein Freund von uns war im Spital und im Nebenbett ist jemand gelegen. Sie hat ihn nicht gekannt und sie sind ins Gespräch gekommen. Und der hat behauptet, die Juden rächen sich heute, für das, was man ihnen während der Hitlerzeit angetan hat, dadurch, dass sie unsere Jugend vergiften. Und der Mann hat noch - ich hab große Augen gemacht - und der Mann hat noch so gutmütig darauf gesagt: na ja, es gibt auch anständige Juden. Aber ich muss euch sagen, dass diese Leute ganz nette gut bürgerliche Leute waren. Aus gutbürgerlichen Kreisen sind die gekommen. Das hat man schon gesehen. Und einige Tage später habe ich mit Absicht eingeschlossen in ein Gespräch, das ich ja liebe, und ich hab ihren Augen angeseh’n, wie sie hofft, dass ich ihr das vergessen hab, was sie gesagt hat. Sie war auch, sie war verändert, sie war nicht unbefangen. Die Unbefangenheit verlieren die Leute in dem Augenblick, wo sie wissen, dass man Jude ist. Außer, man ist ein Judenfreund. Das merkt man sofort.
Erinnern Sie sich wie sie zu mir gekommen sind, und wie ich gesagt hab: ihr seid aber Judenfreunde. Sofort hab’ ich’s bemerkt. Ist interessant, nicht? Ich merk das sofort. Aber es macht mir nichts. Es macht mir nichts. Ich fühl doch, dass man hier so als Jude eine Aufgabe hat. Denn wer sollte Zeugnis vom Judentum ablegen, wenn kein Jude da ist, nicht?
Die andere Frage wäre die: wie würden Sie das Feindbild skizzieren? Was gehört zum Feindbild dazu?
„Das Feindbild Jude hat sich seit zweitausend Jahren hundertmal geändert”
Das Feindbild Jude hat sich seit zweitausend Jahren hundertmal geändert. Und es ist, es ist also, es ist... es ist vom Katholizismus. Auch wäre besser, [wenn] die Theologen besser verstehen wie ich. Aber es ändert sich. Man mutet den Juden Dinge zu, die, die oft absurd sind. So wie die Frau jetzt zum Beispiel das gesagt hat. Bitte, das ist eine Art Aberglaube manches Mal. Es kommt mir manches Mal wie ein Aberglaube vor. Man wird, man mutet ihnen etwas zu... Zum Beispiel, nehmen wir an, man hatte irgendeine, irgendeinen Streit oder irgendeine Unstimmigkeit mit Bekannten. Oder mit sagen wir Bekannte, Freunde kann man wohl nicht sag’n. So wird man schon irgendetwas sehn, was mit dem Judentum zusammenhängt einmal.
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Ah, das sind wieder die Juden. Man hat, wir hab’n eher, wir hab’n einen schlechten Ruf, sag’n wir, die Juden.
So, und deswegen ist es leicht ihnen das...
Es ist leicht, sehr leicht, sehr leicht gegen sie. Also da wir ja nicht von Propaganda. Sie hab’n mich gefragt, wie ich sehe, wie man das Feindbild sieht. Eine, eine sehr wichtige Vorstellung von den Juden. [Sie] wird nicht jeder gleich auf die gleiche Weise haben. Es hängt auch von dem Betreffenden ab, wie er, wie er eingestellt ist, und wie er beeinflusst wurde, auf welche Art er beeinflusst wurde. Es wird auch viel nachgeplappert, man hört das oder jenes. Zum Beispiel so wie diese Frau hier, wie ich voriges Jahr erzählt hab. Es ist kein einheitliches Feindbild, das jüdische.
Kann ich sagen, dass es irgendwo gemeinsame Grundzüge der verschiedenen Feindbilder gibt? Sind die so unterschiedlich?
Ja, ich hab, ich hab jetzt... Ich stelle es mir so vor, dass man nach dem wir gute, nachdem wir sag’n wir gute Eigenschaften haben, dass wir sie in den Dienst schlechter Ideen und schlechter Dinge stellen. Vielleicht ist es das. Ich weiß es nicht. Dass man zum Beispiel den Juden mehr, sie haben mehr - ich möchte nicht davon reden -, aber Sie haben eine hohe Intelligenz. Und nehmen wir an, nicht wahr, deshalb glaubt man, dass sie damit Missbrauch treiben. Und so stell ich mir das vor. Man wird ihnen nicht nachsagen, dass sie, so wie den Gastarbeitern, dass sie laut und schmutzig sind, zum Beispiel. Nicht wahr? Also sie haben einen sehr [eigenen] Status als Feindbild. So kann man sagen. [Man] traut ihnen nicht. Man hält all das, was über die Juden so im Laufe der Jahrhunderte sich zusammen getragen hat, zusammen getragen wurde, dass hat, das findet ein Echo in der Bevölkerung und in den Menschen. Und ich, merkwürdigerweise, mir macht es nichts aus, gar nichts, gar nichts.
Wie kommt das?
Weil ich über den Dingen steh. Ich sehe es von einer höheren Warte aus. Ich sehe von einer hohen Warte aus, wieso es mir nichts ausmacht. Sie sind es mir nicht wert.
Kann dies mit ihren Erfahrungen in Auschwitz zusammen hängen, die Distanz, die Sie jetzt zu diesen Dingen haben? Weil Sie ja die dunklen Seiten des Antisemitismus kennen gelernt haben?
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Ja, ich hab, ich mein, es hat ganz bestimmt damit zu tun, dass ich weiß, dass es eine Gefahr für die Welt ist. Das ist es, das dürfte es sein. Ich hab das Gefühl, ich muss sie davor... Das ist es auch. Ich hab das Gefühl, ihr macht etwas, ihr denkt falsch und ihr handelt falsch dadurch. Und das nimmt mir, das nimmt mir das Gefühl, persönlich angegriffen zu werden. Für mich eine unpersönliche Sache. Ihre Angelegenheit ist es, nicht meine.
Weil eben das Feindbild auch sie nicht trifft, sondern eine Phantasie ist.
Ja, eine Phantasie, eine Phantasie. Und ich denk mir, ihr zahlt drauf, ihr schlittert in ein Abenteuer hinein. Ihr denkt unrichtig, ihr geht ab von dem richtigen Weg.
Wenn ich zum Beispiel am Freitag meine Lichter zünde und meine Gebete verrichte, bete ich dann immer auch für mich. Zuerst danke ich, dass ich meine Gedanken verbreiten darf. Ich hab das Gefühl, dass sie mir diktiert sind. Ja, ich hab auch das Gefühl, dass mir jedes Wort diktiert ist, dass ich geschrieben hab. Ja das ist interessant. Nicht? Und dann sag ich immer: „Gib mir die Kraft, die Gesundheit und die Zeit, damit ich es noch vollbringen kann, was ich zu verbringen hab.” Damit ich noch beibringe, damit ich das, diese Erkenntnisse, noch weitertragen kann. Aber nicht einen Moment noch, nichts ist geschehen bisher, was meine Erkenntnisse, die ich gewonnen habe im Laufe der Zeit, widerlegt hätte. Es ist immer so gekommen, wie ich es dann vorausgesehen hab. Sie waren nie wieder weg durch die Ereignisse. Also ich bin immer noch angespornt drauf.
„Antisemitismus hemmt die humane Entwicklung”
Bitte, der Bleicher, wie er mein Buch noch gedruckt hat und ich ihm das auseinandergesetzt hab, hab ich gesagt, die Leute wissen das doch, dass die Welt so reagiert, wenn sie mit dem Antisemitismus kommen. Das wissen Sie doch. Die gut gesinnte, die humane Welt ist bedroht durch den Antisemitismus. Schauen Sie, es gibt so viel Gefahren, hab ich gesagt. Bitte, bekämpft viele Gefahren. Aber ich kann nur diese Gefahr bekämpfen. Ich bin dazu da, bin nicht dazu da, um die Atombombe... Abgesehen davon ist es ja, wenn man den, wenn man den humanen Gedanken fördert, ist es ja auch eine, eine kleinere, haben wir eine kleinere Bedrohung. Nicht? Alles andere, sogar der da oben, ist eine kleinere Gefahr. Und der Antisemitismus bekämpft, hemmt die humane, die humane Entwicklung innerhalb der christlichen Welt. Das ist eindeutig. Schauen Sie, dass die Propaganda geglaubt wird, nicht wahr, sie richtet sich dann, die Emotionen werden geweckt, die richten sich gegen uns. Damit hat der Aktivist schon die Massen gewonnen, sagen wir, die Massen gewonnen. Einmal an der Macht ist es schon zu spät.
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Das ist es. In dem Moment, wo erkannt wird, mit wem man es zu tun hat, ist es schon zu spät. Da war ich. Ich hab genau, ich hab, ich hab die Entwicklung, die Entfaltung des Antisemitismus, den Nationalsozialismus vor den Augen der anständigsten Leute mit angesehen. Die Entwicklung, die Entfaltung, das Ganze, seine ganze, die Machtentfaltung Hitlers vor den Augen einer gut gesinnten, human denkenden Welt... In dem war eben die Propaganda Hitlers, dass sie das Feindbild waren. Hitler hat es ausgestattet mit allen Finessen, die er nur möglich hatte, und die Menschen haben es ihm abgenommen. Ganz einfach. Sie haben nicht gedacht. Da waren dann, da waren sie persönlich betroffen. Sodass, solange dieses Feindbild nicht benützt wird als Propaganda, so lange richtet es keinen Schaden an. In dem Moment, wo es sich anscheinend, wenn es dann... Nehmen wir an, man hat von jemandem eine schlechte Meinung. Ich glaub, ich hab Ihnen neulich das schon erwähnt. Man hat von mir eine schlechte Meinung. Gut. Er tut mir ja nichts. Er, man hatte eben einen schlechten Ruf. Ich hab das über ihn gehört und jetzt wird man ihnen empfehlen: der schadet dir, seinetwegen verlierst du deinen Posten und so weiter.
Weil derjenige einen schlechten Ruf hat, glaubt man auch das schlechtere, das man über ihn erzählt, auch dann wenn es nicht...
Auch dann, wenn es nicht der Fall ist. Auch dann, wenn es nicht der Fall ist.
Und das wär’, ganz einfach erzählt, eigentlich der Mechanismus auch antisemitischer Propaganda.
Ja.
Das funktioniert.
Ja, das... Der ist ja nicht anwesend. [Bei anderer Gelegenheit wies die Sprecherin darauf hin, dass der Antisemitismus am stärksten sei wo am wenigsten Juden wären.]
Und so kann aber auch dieses Feindbild durch die Propaganda nutzbar gemacht werden für eigene politische Interessen.
Selbstverständlich.
Auf Kosten der Juden.
Selbstverständlich auf Kosten der Juden. Aber die Juden, aber die Juden haben heute eine andere Position. Sowohl innerhalb der Völker, als auch in der Welt.
Durch den Staat.
[Wie soll ich das verstehen]?
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Nur durch den Staat. Ohne Israel, ohne Israel gibt es kein Judentum mehr. Die Juden werden Israel nicht... Das, das gibt es heute nicht mehr... War ein Unglück.
Wo man jetzt an dem extremen Orthodoxismus, der extremen Orthodoxie...
Aber sie ist nicht, sie ist nicht... Erstens einmal ist sie eine geringfügige Menge und eine, nicht, geringfügige Zahl. Und sie sind unhaltbar, glaube ich. Diese Extremisten sind unhaltbar. Sie werden auch nie irgendwelche Rolle, eine tragende Rolle spielen. Ich weiß auch nicht, wie sie sich das vorstellen, die Orthodoxen. Bitte, ich bin da überfragt.
Nach den Aussagen der Propheten werde das israelitische Volk gebrochen - ich sprech’ da mit Nehemia - von den anderen Völkern, damit Gott sie eben heimsucht.
Ja, ja, ja, ja. Aber das ist kein Zufall. Wir haben, wir sind, das jüdische Volk hat sich ausgeliefert, indem es seine Freiheit, seine Freiheit erlangt hat. Die sogenannte Emanzipation. Damit war es ausgeliefert, den, den antijüdischen Kräften. Das ist auch kein Zufall.
Indem es seine Wurzeln, seine Identifikation [Identität] preisgegeben hat?
Sehr richtig. Ja, ja. Das war ein unglaublicher Fehler. Wenn man [Theodor] Herzl [1860 - 1904] nicht... Das war der Prophet. Dass man Herzl damals nicht mehr Beachtung geschenkt hat, das war ein großer Fehler. Herzl kam ja selbst aus der Assimilation. Aber er hat’s erfasst.
Mit [Alfred] Dreyfus [1859 - 1935]...
Im Dreyfus-Prozess. Ja er. Ja es war auch merkwürdig, dass er als Korrespondent in der Neuen Freien Presse wurde und, und blitzartig ist ihm das vor Augen getreten. Dieses, dass das kein... Ist auch eine blitzartige Erkenntnis gewesen. Nicht? Das jüdische Volk plötzlich zurückzuführen in seine Heimat. Nicht. Sein Judenstaat hier. Haben Sie ihn schon gelesen?
Aber man hat unbedingt geglaubt, man hat geglaubt, ich selbst hab geglaubt, wie ich, wie ich nach... Wie der Staat gegründet wurde und wie unter den Völkern seinerzeit vor dem Sechstagekrieg, bevor die Sowjetunion den Antisemitismus in die Welt gebracht hat, in die Welt gebracht hat. Er war ja sehr beliebt unter den Völkern. Und ich hab geglaubt, dass Israel den Antisemitismus ad absurdum führen wird. Aber es war nicht so. Aus dem Antisemitismus ist ein Antizionismus
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geworden. Ich hab damals eine Zeitlang gehofft, die Israelis... Sie haben sich auch nicht sehr viel gekümmert um den Antisemitismus, die Israelis.
Kümmern sie sich heute darum?
Eigentlich kümmern sie sich auch heute nicht sehr. Ich sag, das ist ein Stück Außenpolitik auf dem Papier in Europa, in Bezug auf das Judentum. Die, nein, ich hab nicht das Gefühl dass die Israelis sich besonders mit dem Antisemitismus befassen.
Vielleicht kann man sagen, dass sie das weniger empfinden wie Sie, dass es sie eigentlich nicht trifft, sondern eben den Nichtjuden manipulieren?
Wie, wie meinen sie das?
Na ja, der Antisemitismus gründet sich auf das Feindbild Jude. Ein Feindbild, das der Wirklichkeit nicht entspricht. Da betrifft es ja auch nicht die Wirklichkeit und gilt hier auch nicht, sondern gilt der Phantasievorstellung in den Völkern, in den nichtjüdischen Völkern, zu Manipulationen von nichtjüdischen Völkern.
Zur Manipulation des jüdischen Volkes.
Der nichtjüdischen Völker.
Bestimmt, bestimmt. Natürlich.
Und von da her...
Natürlich. Das ist ja dasselbe. Das mein ich ja. Ja, und da fühlt sich der Jude, als auch der Staat Israel, auch nämlich nicht direkt betroffen, weil er weiß, dass das der Wirklichkeit nicht entspricht, und nur dazu dient, um andere Menschen zu bestimmten Dingen zu veranlassen. Die glauben, dass Israel sich deshalb nicht besonders um den Antisemitismus kümmert. Ich glaube wieder, dass sie andere Sorgen haben. Dass ihre größte Sorge der nahöstliche Raum ist. Aber, aber dass sie das vielleicht und dass die, dass sie die Lösung, dass sie die Lösung vielleicht darin sehen, dass sie sagen: kommt nach Haus, wozu braucht ihr unter den Völkern zu leben. Aber andererseits, wer soll sich, wer soll der Partner dieser, dieser Judenfreund sein, die es gibt, die es ja auch gibt. Nicht? Und wo, und ich frag mich, wie, wie es überhaupt zu einer, zu der... Woher, wie es überhaupt dazu kommt, dass der Nichtjude, der Nichtjude, der in antijüdischem Sinngeist erzogen wird, zum Judentum stehen kann. Das ist natürlich eine kolossale... Ich hab’ eine kolossale... Ich zum Beispiel bewundere das.
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Was jetzt genau?
Ich bewundere das, wenn ein, ein, wenn ein Nichtjude, welcher Konfession immer, in nichtjüdischem Geiste erzogen wird, und trotzdem ein Judenfreund wird mit der Zeit. Das find’ ich wunderbar. Ich denke, dass es dort geschieht, wo eben doch jüdische Wurzeln sind. Wie beim Christentum, das sich stark orientiert...
Das bewusst... Ja, das hat mir die Eeva auch gesagt.
Das kommt dann irgendeinmal automatisch.
Ja.
Ich hab zuerst mal geglaubt... Jetzt beschäftige ich mich zuerst mit dem Alten Testament...
Aha.
Bewusst, intensiv. Die Frage ist, was...
Aber das sind die wenigsten, die wenigsten von hier. Also der Mann von der Straße, der hat bestimmt die Bibel nicht gelesen.
Das denk ich auch. Das ist ja auch ein Verdienst der katholischen Kirche, ein trauriger ... Denn es war ja lange Zeit verboten, dem einfachen Mann, die Bibel zu geben. Als ich beim Bundesheer gewesen bin und als Korporal vom Tag die Bibel gelesen habe... Man durfte die Dienstvorschriften lesen und die Bibel. Ich fand die Bibel natürlich interessanter. Da kam ein Leutnant, schon etwas alkoholisiert, und hat da väterlich mit mir geschimpft. Wie ich mir das vorstelle, ohne Anleitung eines großen Theologen die Bibel zu lesen.
So, so.
Aber ich habe mit dem Johannes geantwortet. Johannes hat gesagt: der Geist, wann er kommt, wird er euch in alle Wahrheit führen [Johannes 16,13-15; 1. Johannes 2, 27 u. a.] Und dann beim Propheten heißt es ja, niemand wird erklären, sondern ihr werdet selber gelehrt sein von Gott [1 Thessalonicher 4,9; Jeremia 31,33-34; Numeri / 4 Mose 11,29 u. a.].
Mmm, Gott, wie wichtig ist jedes Wort.
„Das erste Wunder meines Überlebens”
Aber ich glaub... Sondern auch die Geschichte, die Befreiung in Jugoslawien, als sie damals festgenommen worden sind.
In Jugoslawien? Nein, wie ich befreit wurde.
Sie haben erzählt, Sie wurden dort festgenommen und waren...
Das war unglaublich. Im schwersten Frauengefängnis von Jugoslawien. Nicht einer ist zurückgekommen. Nicht einer ist mehr zurückgekommen. Da hat man, da waren wir in einem Frauengefängnis. Die... Es war ein Anschlag auf die Post und die Spuren der intellektuellen Urheber
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haben in diese Gegend geführt, wo wir gewohnt haben. Und da sind, also ich und meine Schwester und die Männer... Und eine ganze Gruppe von Juden und Serben sind eingeliefert worden in ein, in das schwerste Frauengefängnis. Und wir Frauen sind in das schwerste Frauengefängnis gekommen. Und da war, das war vor wo... Das habe ich Ihnen erzählt. Das war vor..., war das. Da war eine alte Dame dabei. Und wir waren, das Zimmer war so groß wie dieses hier, so bis vier zu fünf Meter. Und wir waren siebenundzwanzig oder noch mehr Personen nebeneinander gepfercht dort auf Strohsäcken. Und diese alte Dame hat Würfelzucker für mich gehabt und hat jedem etwas Würfelzucker gegeben. Und sie hat gesagt: „So süß wie dieser Zucker”, das mein ich auch heute noch zu hören, „so süß wie dieser Zucker soll das nächste Jahr für Euch und uns alle sein.” Und haben alle geweint. Sie hat gesagt: „Weint nicht. Er streitet für uns. Er wird für uns streiten. Jom Kippur sind wir frei.” Und vor Jom Kippur, sind immer im Gefängnis, sind immer...
Also man hat, man hat, bevor man die Leute ins Lager dirigiert hat, hat man sie immer noch kontrolliert. Hat also registriert, kontrolliert. Und das hat der Polizeioberst, der Polizeichef von Zagreb unternommen. Und an jenem Tag, an dem wir ins Lager hätten kommen sollen, war der Polizeichef von Zagreb, er hat eine Grippe gehabt. Und an seiner Stelle ist ein Partisan, ein Freund von uns, ein, der hat eine Uniform, das war die Uniform der Nazis, angehabt. Und er hat sich hereingeschmuggelt in diese Kreise, war ein Spion. Und er hat die Kontrolle übernommen an jenem Tag. Und sieht mich an und sagt: „Die Frauen sind frei.” Wir haben natürlich nicht widersprochen. Er ist herausmarschiert auf die alte Dame zu. Ja die übrigen sind weg, leider. Aber wir waren frei. Und er kommt, wie ich draußen stehe, kommt er, kommt er, während er die Kontrolle beendet hatte, kommt er auf mich zu und sagt: „Jetzt hab’ ich aber etwas riskiert eurethalben. Jetzt aber schaut, dass ihr wegkommt von Zagreb.” Nächsten Tag sind wir schon nach Dalmatien geflüchtet. Ja. Also, das war das erste Wunder meines Überlebens. Wenn der Polizeichef damals gesund ist, bin ich heut nicht mehr da. Ein junger Mann war es, er dürfte fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Thalbach hat er geheißen. Nachher hab ich mich sofort, nach dem Krieg hab ich mich sofort nach ihm erkundigt. Die Deutschen sind ihm drauf gekommen und haben ihn erschossen. Er hat nicht überlebt. Nicht nach diesem Fall, nach einem Späteren. Sie haben seine Tätigkeit durchschaut. Haben ihn erschossen, nicht überlebt. Ein junger Mann. Einige Tage zuvor
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bin ich noch mit ihm, er ist neben mir gesessen, und wir haben mit einander gesprochen. Er war ein Bekannter von uns. Wir haben miteinander gesprochen. Und er hat so merkwürdige Ansichten gehabt. Ich hab’ damals nicht gewusst, dass er ein Spion ist, dass er bei den Partisanen arbeitet. Hat er nicht gesagt. Und meine Schwester hat noch nachher gesagt: „Du, das ist ein merkwürdiger junger Mann. Entweder er wird etwas großes, oder er wird, oder er endet furchtbar. Etwas ist in diesem Menschen.” Sie hatte keine Ahnung, dass er ein Spion ist, in unserm Sinn. Sein Dasein zu erklären, wenn man es so nennen will.
„Wie ich gebetet hab”
Können Sie uns mal erzählen, wie es da in Auschwitz war?Ja, das war doch, wie ich gebetet hab. Ja, interessant. Das hab ich auch der Göbelbauer erzählt, das hab ich auch der Göbelbauer erzählt. Ich glaube, das ist auch, das dürfte auch... Da hab ich ja... Ich hab erst interessanter Weise... Ich konnte in Auschwitz nicht beten. In Auschwitz! In Auschwitz war mir Gott... Es war mir ein Sakrileg, auch den Namen Gottes überhaupt in Auschwitz auszusprechen. Ich hab mir gedacht, da ist kein Gott. Nicht. Als ob er... Ich hab an seiner Allgegenwart gezweifelt, an seiner Allgegenwart hab ich gezweifelt. Nicht einmal an seiner Allmacht. Da hab ich mir gedacht, unter solchen Menschen... Wahrscheinlich hab ich doch das, doch das Gefühl, dass Gott in uns lebt. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Und konnte nicht beten.
An einem, an einem Tag, das war in Bezant [Monowitz?], wo wir... Da war ich im Arbeitslager. „Das Ausrücken” hat man das genannt, „Das Ausrücken in den Vernichtungsdienst”. Und durch Kot und durch Dreck [sind wir] gewatet. Das war ein fürchterliches Wetter. Und meine Schwester Lilli - damals war die Stella schon tot - meine Schwester Lilli war ohnehin, ist noch schwächer als ich, ist ge-stürzt. Und ich hab sie aufgehoben, habe sie mit mir geschleppt bis zum Arbeitsplatz. Und wir sind damals, wir wurden auch damals früher zurückgeschickt, weil sogar der SS war das Wetter anscheinend zu schlecht, die uns begleitet haben, früher zurückgeschickt worden sind, in den sogenannten Block. Und sind auch, glaube ich, und mussten auch, glaube ich, nicht, nicht mehr Appell stehen. Weil normalerweise musste man auch da sein und Appell stehen. Mit einem Wort, ich habe mich durch den Kot und durch den Dreck zu Tode erschöpft hingeschleppt. Und wie ich, vor dem Block war, hab ich plötzlich an Gott gedacht. Das erste Mal, dass ich mit Gott...
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Habe eine Zwiesprache mit ihm geführt, gehalten.
Wie lange waren Sie schon dort?
Da war ich, da durfte ich einige Monate... Das dürfte im Sommer, im Hochsommer schon gewesen sein. Aber ich war schon einige Monate in... Weil das war schon im Arbeitslager. Ich war ja vier Wo-chen in der Quarantäne und dann bin ich ins Arbeitslager gekommen. Und da hab ich schon gewusst, was sich in Auschwitz tut, dass man dort vergast wird, wenn man krank wird. Das hat man alles schon gewusst.
Da hab’n Sie gebetet?
Damals, da hab ich nicht gebetet. Sondern ich hab, ich habe, ich habe Ihn gefragt. Ich hab gesagt, ich hab gefragt: „Was soll ich tun? Gib mir eine Antwort. Ich werde tun, was du mir befiehlst. Gib mir eine Antwort. Die Lilli hält das nicht aus. Die Lilli bricht zusammen. Ins Revier kann ich sie nicht, lasse ich sie nicht. Weil das der sichere Tod ist. Und ich, wer weiß, wie lang ich es aushalte? Sag mir, was ich tun soll.”
Und hinter mir kommt ein, unsere Blockältere, Blockälteste, die reizend war in diesem Block, ganz im Gegensatz zu allen andern Blockältesten. Sie war reizend und fragt mich: „Geht es schwer Lucie?” Da sag ich: „Ja, sehr schwer. Und ich hab jetzt an Gott gedacht und hab ihn gefragt, was ich tun soll.” Und sie sagt: „Schau, deshalb sind wir doch Juden”, hat sie so tröstend gesagt.
Ich bin in den Block... Antwort... Und ich komm in den Block und meine Schwester Lilli liegt in der Koje und schaut mir mit einer ganz entschlossenen Miene entgegen. Ich war das von ihr lange nicht gewöhnt. Sie war so willenlos, und so vollkommen... Ihr war das so egal. Ich hab sie geschleppt, ich hab sie gezogen mit mir. Und sie sagt: „Lucie, du kannst mich nicht mehr zurück halten, ich gehe morgen ins Revier. Mir ist es egal, ob ich auf der Landstraße krepier, oder ob ich in die Gaskammer geh. Du wirst dich vielleicht noch durchschlagen können. Ich bin dir nur eine Last. Mit mir schaffst du's nicht. Ich geh ins Revier.” Hab ich mir gedacht, das ist die Antwort. Und hab gesagt: „Gut. Du gehst ins Revier und ich geh' mit dir.” Und damit war die Sache für mich erledigt. Ich hab gewusst, Gott, will, dass ich ins Gas geh. Und das war nicht so. Das Revier hat uns gerettet... Man möcht das nicht für möglich halten. Das Revier hat uns gerettet. In der nächsten Zeit sind die Ungarntransporte gekommen. Und die Krematorien, wir hatten vier Krematorien.
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Vier Krematorien haben Tag und Nacht gearbeitet. Im Lager hat man die Häftlinge nicht selektiert. Also wir sind nicht selektiert worden. Und wie die Selektionen begonnen haben, habe ich schon meine Beziehung gehabt. Einmal hab ich das Glück gehabt, einen, die, eine Putzerin zu vertreten, mit hohem Fieber. Mit hohem Fieber, hab ich die, im Revier, die Gänge aufgewaschen. Ich weiß überhaupt nicht wie. Die sogenannte Pflegerin, man [nannte] die Helferinnen so dort, hat mir zugeflüstert: „Lucie, das machst du sehr gut, ich hab dir zwei Kartoffel gegeben. Eine für die Lilli, eine für dich.”
Und wie die Selektionen begonnen haben, habe ich mich an die Chefärztinnen, an die jüdische Chefärztin gewandt. Habe einen Zettel geschrieben, mit... Das war keine Kleinigkeit. Das war sehr schwer in Auschwitz, einen Zettel oder einen Bleistift zu ergattern. Aber ich hab mir das irgendwie von meinen, von meiner, ich habe mir das irgendwie beschafft. Und hab ihr das zukommen lassen. Sie hat uns gerettet, sie hat uns versteckt.
Ich hab meine Schwester... Ich hab darüber geschrieben, wie das des geschehen ist. Ich hab den Mengele [Josef Mengele 1911-1979], ich hab... Vier oder fünf Schritte ist er vor mir gestanden. Der hat meinen Namen gerufen, meinen, und Lillis Namen. Und plötzlich hab ich die eine, der Schreiberin, so hat man die genannt. Man hat doch gewisse Funktionen den jüdischen Häftlingen übergeben. Und es war ein Glück, wenn man so was bekommen hat. Hat sie sich hineingeschlichen und hat gesagt: „Bleib.” Und die Chefärztin hat gesagt: „Aber die sind doch bei der Arbeit.” Damit war er... Dann ist er weiter gegangen.
„Ich bin hundertmal gerettet worden”
Das war die erste, die zweite Rettung. Aber ich bin hundertmal gerettet worden, hundertmal. Jede Stunde war doch, jede Sekunde war doch eine Todesgefahr, eine Lebensgefahr. Jeder Schritt war eine Lebensgefahr. Einmal habe ich, einmal habe ich, einmal war ich schon, warn wir... Da hab ich wirklich geglaubt, dass es aus ist. Da hat der Mengele noch einmal alle zusammen gerufen. Man hat’s gar nicht gewusst, man hat gar nichts gewusst. Er hat das auf eine teuflische Art gemacht. Er hat durchsiebt. Es ist ihm kaum jemand entgangen. Und einmal, und einmal hat er wieder so einen Überraschungsangriff gemacht und da hat er uns abgehakt gehabt, schon auf der Liste, auf seiner Liste. Und ich bin, ich wollte zur Chefärztin laufen und ihr das melden, und sie war dabei übrigens, und sie fragen, was man jetzt machen kann. Und wie ich sie aufsuchen wollte, war gerade Fliegeralarm. Da hab ich schon gedacht, jetzt ist es zu Ende. Ich hab sie dann doch erreicht und am Abend
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hat es geheißen, die Liste ist zerrissen worden. Sie hat ihm eingeredet, dass es Schutzhäftlinge sind. Ja, sie hat manche gerettet, soweit sie konnte. Aber dass wir davon gekommen sind, das ist...
Was waren Schutzhäftlinge?
Ein Schutzhäftling war ein Häftling, der, gegen den ein Prozess gelaufen ist. Aber die war'n, so lang der Prozess gelaufen, wurden sie nicht vergast. Zum Beispiel wenn ein, wenn ein Schutz..., wenn ein Häftling sich etwas zuschulden hat kommen lassen, außerdem dass er Jude war, nicht. Gegen ... politisches, politische Häftlinge, politische Häftlinge allein genügte nicht. Er musste sich etwas zuschulden kommen... Er musste etwas getan haben. So ist etwas gegen ihn vorgelegen und das wollte man untersuchen. Wahrscheinlich auch aus politischen Gründen, wo man nicht gewusst hat, wer die Hintermänner sind oder so.
Und dann gab's da noch die Episode mit einem SS-Soldaten. Der soll mit einem Soldaten, der vorbei-ging...
Ja, wie wir dort eben verdreckt und ver... gelegen sind und der SS-Mann ist vorbeigegangen. Ja, das war auch unvergesslich. Weil, ja, am Straßenrand sind wir gesessen. Es war schon Winter. Da war ich wieder im Arbeitsdienst. Bin ja oft im Arbeitsdienst gewesen. Und dann sind wir so gesessen, und der SS-Mann, gegen den Wind. Und da waren keine Vergasungen mehr. Die Vergasungen haben aufgehört und im Spät-herbst 1944. Angeblich auf eine Depesche der schwedischen Regierung hin. Angeblich. Es gibt auch andere Versionen, warum sie es aufge... Warum sie nicht mehr vergast haben. Wahrscheinlich haben sie schon versucht, ich weiß es nicht, vielleicht haben sie schon das Ende kommen geseh'n, und gespürt. Da is er so vorbeigegangen und [hat] uns etwas so gehässiges zugeworfen. Ich habe meine Kameraden gefragt, was hat er gesagt? Hat Lilli gesagt: „und doch habt ihr gesiegt”. Aber dass wir das überleben, dass wir mit sein werden, mit dabei sein werden, dass wir das erleben werden den Weg. Das war schon eine, das war... Ich hab' das, ich hab das glaube ich, der Eeva erzählt, wie wir im... Euch hab ich's auch erzählt glaube ich.
„Silvesternacht 44 / 45”
Als die Russen schon kamen?
Wie wir noch in der Silvesternacht 44 / 45... O ja, in der Silvesternacht 44 / 45! Das war interessant. Da war ich wieder im Revier, schwer krank. Meine Schwester natürlich, ohne meine
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Schwester wäre ich nie einen Schritt... Und da war, es war so merkwürdig diese Nacht 44 / 45. Da draußen ist doch der Kalender, der erste Kalender 45. Der steht noch bei mir in der Küche, den ich also... Wie das Jahr 45 gekommen ist, das war unglaublich. Ich hab's in Auschwitz erlebt, sind, es ist, wissen Sie, es war sehr still. Es war ja, diese mörderische Disziplin war etwas gelockert in jener Nacht. Wahrscheinlich haben, wahrscheinlich warn die Ra... es nicht da. Ich weiß nicht. Aber ich, draußen, plötzlich.. In der Nacht höre ich die La Marseillaise draußen singen, von französischen Häftlingen, habe ich mir gedacht: jetzt ist Mitternacht. Und bin aufgestanden und hab mich auf diesen, auf so einen, so eine Art, man hat es Kamin genannt, es war so eine Untersuchungs-, so eine Art Bank war das. Hab mich dort hin geschleppt, dort hingesetzt. Die Nachtwache kommt. „Bist du verrückt?” sag ich ihr. Wleschka, rothaarig, eine rothaarige Polin, Lescha [?]. „1945 ist ein großes Jahr. Das kann ich nicht, will ich nicht liegend anfangen, wenigstens sitzend. Es bringt das Ende”, sagt sie. „Ja, aber früher wird es unser Ende bringen. Du glaubst doch nicht, dass sie einen von uns lebend von da heraus lassen?”
Und ich hab’ bis dahin das, die Außenwelt, das jenseits der Stacheldrähte, das hat für mich nur be-standen in einem Bett, in einer Mahlzeit, so visionär, in einem Tisch wo man essen kann. Alles war versunken. Ich hab mir ein normales [Leben] nicht einmal mehr vorstellen können. Und in dem Moment wo sie das gesagt hat, hab ich ihr gesagt: „Was fällt die ein, Lescha? Wer wird den Menschen erzählen was geschehen ist? es muss doch, überlebende geben um Gottes willen.” Das war zum ersten Mal ein lichter Moment. Da hab ich einmal an die Welt gedacht, die draußen jenseits der ... Auch an die Menschen gedacht. Ich hab an die Menschen vergessen zu denken, ich, an alles vergessen zu denken was... Die Kreatur, die nur gesucht hat, wo sie ein Bissel Nahrung bekommt, wo sie a Bissel Brot bekommt, wo sie... Es war alles ausgelöscht. Nur visionär hat man alles gesehen. Das war so eine unwirkliche Vergangenheit.
Und damals hab ich ihr das gesagt, hab ich gesagt: „Du, wenn ich da herauskomme, werde’ ich doch erzählen und erzählen. Es muss doch jemand erzählen.” Und die sagt: „Pst. Pst.” Und ich hab sofort aufgehört zu reden. Aber das, weil ich mir gedacht hab, und hab von ganz ferne den Kanonendonner gehört. „Das warn die Russen”, sag ich, sag ich. Sagt sie, „Hörst du?” Sag ich, „Ja.”
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„Sag, das sind die unsrigen”, sagt sie. „Ja, ja, das sind die unsrigen. Aber wir haben weiter nichts gesagt. Ich hab mir nur gedacht, sie müssen da sein, bald, vielleicht doch.
Und am 16. Januar haben die, sind dann die, ist dann über Nacht auch im Revier, ist dann die, in der Nacht plötzlich Licht geworden. Und ein SS-Mann ist herein gekommen und sagte: „Schreiberin, Schreiberin, die Kartothek.” Und nächsten Tag haben sie, ist ein, haben sie Auschwitz evakuiert. So rasch ist das gegangen. Mich haben sie, die Kranken haben sie liegen gelassen. Nur die paar, nur die, die gehfähig waren... Aber uns haben sie liegen gelassen. Uns wollten sie noch liquidieren [töten]. Zwei Tage später... Habe ich Euch das erzählt, wie die Männer angetreten sind? Ja?
Sie sind angetreten.
Das war die mit den, mit den Transporten. Am 17. ist dann ein Transport... Das war ein Gewaltmarsch. Eine Freundin von mir hat, eine Kameradin von mir, hat ihn durchgestanden. Sie hat gesagt: „Das war fürchterlich. Rechts und links, es wurde erschossen, wer nicht mit konnte.” Also so stark waren die Häftlinge nicht mehr. Das waren nur vielleicht die ganz jungen, die kurz dort waren. Aber so stark warn sie nicht mehr, dass sie so einen Gewaltmarsch, Hunger und alles Mögliche... Und auch nicht so angezogen, nicht. Also sie hat gesagt: „Fürchterlich.” Und zwei Tage, und die Deutschen sind dann weg, und zwei Tage später ist die Nachhut gekommen. Und da hat’s geheißen in den Blocks: „Alle Juden antreten!” Wollten uns liquidieren. Und ich hab meiner Schwester gesagt: „Wir treten nicht da an. Die werden vielleicht die Judenzeichen nicht mehr sehn. Vielleicht werden die auch die Zeit nicht mehr haben.”
„Merkwürdigerweise habe ich logisch gedacht, bis zuletzt”
Merkwürdigerweise habe ich logisch gedacht, bis zuletzt. Wir haben dort diese, die jüdischen Zeichen, gelb. Und die Männer sollen angetreten sein. Das hat mir nachher ein Arzt erzählt, der überlebt hat. Als Arzt war es möglich, zu überleben. Und er sagte: „Sie sind angetreten, die Männer sind angetreten auf der Wiese. Die Liquidationsmannschaft bereit, die Häftlinge zu liquidieren. Stellen Sie sich das vor: alle Juden antreten. Und plötzlich kommt ein Jeep. Heraus springt ein SS-Mann, ein SS-offizier, flüstert dem Leiter der Liquidationsmannschaft etwas ins Ohr. Der sagt den Häftlingen: „Ihr bleibt.” Schwingt sich in den Jeep und verschwindet. Beide sind verschwunden und nicht mehr wieder gekommen. Der Arzt war zufällig ein, ein Jugoslawe, war zufällig unser Hausarzt in Zagreb. Medizinalrat Dr. Max Großmann [?] hat er geheißen. Er hat gesagt: „Wir sind dort gestanden. Plötzlich sagt
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einer... Wir sind eine viertel Stunde gestanden, eine halbe Stunde gestanden, haben uns nicht getraut, wegzugehen. Plötzlich sagte einer von uns: „Dass uns Moses einmal trockenen Fußes durch das Tote Meer geführt hat, kommt doch nur einmal vor.” Der Offizier scheint dem Liquidationsleiter gesagt zu haben: „Der Ring um Auschwitz ist geschlossen, und wenn er nicht sofort verschwindet gerät er in russische Gefangenschaft.”
Ich muss Euch sagen, es hat lang gedauert, es hat lange gedauert, ehe ich die Russen mit ihrem furchtbaren Regime identifizieren konnte. Ich identifiziere sie auch heute nicht damit. Nicht mit dem Regime. Aber ich konnte das Regime nicht einmal hassen. Weil, das war so eine unglaubliche Sache. Zehn Tage waren wir Niemandsland zwischen den Fronten. Die, die, also das war traurig. Finsternis. Die Front ist näher gekommen. Man hat sein eigenes Wort nicht mehr gehört. Hab ich euch das erzählt?
Nicht...
Das nimmst Du alles auf? Um Gottes Willen!
Ich hab gesagt, ich hab ein Attentat. Und ein guter Attentäter macht das unauffällig...
Ha! Deshalb hast du mich so viel gefragt.
(Alles lacht.)
Köstlich! Ist ein Andenken an eine Zeit. In der Zeit ist es ist ganz gut, eine Zeugin der Zeit zu sein. Wie lange werden sie noch erzählen können? Ich meine, Ende dieses Jahrhunderts sind die Zeugen, die wirklichen Zeugen verstummt. Abgesehen davon haben [es] doch die wenigsten begriffen. Ich will jetzt nicht reden bevor...
Reden S’ drauf. Es läuft noch.
Die wenigsten. Die wenigen... Haben ja überhaupt nicht erfasst, was das Ganze war, war Judenverfolgung. Für die vielen, das Ganze, das Ganze, die ganzen Probleme, die es in sich, in sich... tobt. Die haben ja die Menschen nicht erfasst. Diese ganzen, diese ganzen... Aber das wollte ich Ihnen sagen. Wir haben, wir sind dort... Finsternis, Hunger, die Fronten sind näher gekommen. Die Kugeln sind beinahe über uns hinweggeflogen. Niemandsland zwischen den Fronten. Und wir haben Deckung gesucht. Und immer nur der nagende Hunger. Ich hab ununterbrochen nur an Essbares gedacht. Wo kann man, wo kann man ein Stück Brot haben? Wo kann, wo kann man eine verfaulte Rübe, wenn man irgendwo aufge... Dann... Hat man sich manchmal vor die Baracke geschlichen und hat Schnee gegessen.
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Schnee. Vor... Das war...
Vor Durst.
Ja, Durst. „Also es war überhaupt kein...” ich hab Herrn Göbelbauer, hab ich gesagt, „das war kein irdisches Dasein. Das war effektiv kein irdisches Dasein, das sie uns bereitet haben bis zuletzt. Und in diesen zehn Tagen, in diesen zehn Tagen vom 17. bis 27., eisige Kälte. Die Nächte waren doch lang. Jänner. Also, eines Tages, ich weiß nicht an welchem, am vorletzten oder am vorvorletzten Tag, ist plötzlich der Kanonendonner verstummt”, hab ich gesagt.
Da hat man wieder die Stimmen gehört, Stimmen. Das Stöhnen, das Sterben rundherum. Die Leute sind gestorben. Man hat es sogar nicht mehr bemerkt. Plötzlich war jemand tot. Das Stöhnen, und hat man dann wieder gehört. Und eine Stimme sagt, ich erinnere mich noch, das war eine Kameradin, die Roth geheißen hat. Eine Stimme war: „Oh, die Kanonen hören auf. Die schießen nicht mehr. Die Deutschen werden zurückkommen.” Hab ich gesagt: „Nein. Wenn die Kanonen, wenn die Kanonen, wenn der Angreifer nicht mehr zu hören ist, dann marschieren die Soldaten”, hab ich gesagt. „Und nachdem die Angreifer die Russen sind, glaube ich, dass die Deutschen nicht zurückkommen. Ich glaub eher, dass die Russen kommen”, hab ich gesagt. Natürlich hab ich das nicht so gesagt, so mit einer starken stimme gesagt wie jetzt. Aber das hab ich mir vorgestellt. Und es war finster. Ich weiß nicht. War’s finster, war’s Nacht, war’s Tag, das weiß ich heute nicht mehr. Die Tage waren doch so kurz. Aber finster war es.
„Das war eine Art Auferstehung”
Plötzlich ein Ruck gegen die Tür und vier Soldaten stehen in der Türe mit Fackeln in den Händen. Und ich seh’ den Roten Stern auf ihren Uniformen, auf ihren Kappen. Und ich schrei: „Die Russen sind da!”
Also das kann man nicht, das kann man sich nicht vorstellen, Es gibt, sag ich Ihnen, es gibt einen Aufstieg in dieser Welt nicht, der annähernd dem gleicht, den ich damals erlebt hab. Das war von einer Hölle in ein irdisches Dasein. Das war eine Art Auferstehung. Trotzdem ich noch nicht befreit war, habe ich es sofort empfunden. Es war ein solches Schreien in der, im...
Die sind zurückgeprallt, wie sie uns gesehen haben, wie sie uns gehört haben. Sie haben nicht gedacht, dass da noch Lebewesen sind... Bin ich aufgestanden. Hab den, bin ihm entgegengewankt - wahrscheinlich hab ich mich angehalten irgendwo, weil man war so schwach, dass man, dass man doch nicht gehen konnte - und hab ihn berührt, hab ihn berührt. Ob es wahr ist, oder ob es nicht nur eine Vision ist, ob es eine wirkliche Erscheinung ist. Dann haben sie, auf Russisch haben sie gesagt, wir sollen uns beruhigen.
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Wir sind jetzt frei und der Weg nach Krakau ist frei für uns. Und es wird uns jetzt nichts mehr passieren.
Also, diese Nacht vergesse ich nie. Diese Nacht vergesse’ ich... Ich hab mir gedacht, ich hab mir damals gedacht... Ich hab mich so zurückgetastet in ein, in ein Dasein, von dem. Die kommen und mir sag’n, ich bin frei. Ich hab mich zurückgetastet in ein Dasein, wo es etwas gibt außerhalb des Elends, das um mich herum ist. Ich hab mich zurückgetastet. Es gibt ein, es gibt irgendwo Gassen, es gibt irgendwo Häuser, es gibt Wohnungen, es gibt ein Bett, es gibt einen Tisch. Das war alles ver-schwommen. Das war alles weg, so wie ein, so wie ein, so wie eine Tier, so wie ein Tier. Das hat man eigentlich, nicht nur ein unirdische, nicht ein nichtirdisches Leben. Sondern, sondern es war überhaupt kein menschliches. Nicht einmal in der Hölle war man. Irgendwo, irgendwie. Man hat keine Erinnerung mehr gehabt. Das ist alles verschwommen gewesen, wie...
Also ich bin, ich bin in dieser Nacht... Meine Schwester hat mir nachher gesagt: „du hast in der Nacht ununterbrochen gesprochen.” Dass ich gesprochen hab weiß ich nicht. Aber ich hab ununterbrochen gesprochen. Ich hab gesagt: „Erinnerst du dich? Das war doch einmal so. Erinnerst du dich? Erinnerst du dich? Es gibt das. Erinnerst du dich? Irgendwie, ja.” Können Sie sich das vorstellen? Aus einer Hölle. Es war eine Auferstehung, es war eine Auferstehung. Wie wenn man aus der Hölle in ein irdisches Dasein... Das irdische Dasein war ein solch paradiesischer Gedanke. Dass es überhaupt, es hat keine, es hat Leidgefühle in meiner Erinnerung nicht gegeben. Es war nichts als ein Paradies. Ich hab nichts gesehen, als ein irdisches Dasein von einer Hölle aus. Effektiv. Das hat sogar eine Zeitlang angehalten.
Am nächsten Tag ist eine, ist eine - da war man fürchterlich schon schwach zurückgesunken - und da ist eine Rote Kreuz Schwester gekommen und hat uns angeschaut. Und haben wir auch schon etwas Essen bekommen. Sehr wenig ... mmm ... kann sterben, nach einem solchen Hunger... Und wie sie zu mir gekommen ist, hab ich auf Französisch, hab ich ihr gesagt: „Sie kommen spät”, hab ich ihr gesagt. Hat sie gesagt, und sie hat mich so angeschaut, hat mir den Puls gefühlt und hat mir gesagt: „Na, für Sie nicht. Für Sie kommen wir nicht zu spät, Sie bleiben am Leben.”
Aber es sind viele gestorben in dieser Nacht. Ich hab, meine Bettnachbarin war eine Ungarin, Elsie hat die geheißen, ich hab ihr gerüttelt, dann ist sie gestorben. Ich hab sie gerüttelt, hab ich gesagt: „Elsie, ich bitte dich, bleib, bleib. Die Russen sind da, wir sind frei.” Leider, leider, sie hat’s nicht mehr erlebt, sie hat nur meinen Namen genannt noch: „Lucie, Lucie”, hat sie gesagt.
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Aber ich hab sie dann nicht mehr, ich hab sie dann nicht mehr, sie ist dann gestorben.
Und einige Tage später - das war nicht der Göbelbauer, das ist auch in meinem Tonband dabei - einige Tage später haben sie uns dann in Schubkarren verladen, die Russen, und haben uns ins Stammlager, ins sogenannte Stammlager... Dort war man gut untergebracht, dort waren die Paradehäftlinge geführt und die SS-Häftlinge. Man hat dort, und dort hat man, dort hat man auf Pritschen, auf normalen Pritschen hat man dort, ist man dort gelegen.
Und wie sie uns herausgeführt, und wie sie mich herausgeführt haben, habe ich wieder an Gott gedacht. Wie sie mich herausgeführt haben, habe ich gedacht, „Gott, ich danke dir.” Die Lilli hat geweint. Ich war die einzige, die dort gesagt hat, ich hab sofort an Gott gedacht.
Nächsten Tag, bevor wir und nach... ist eine Russische, eine Soldatin, in unsern Block gekommen und hat bitterlich geweint wie sie uns gesehen hat. Und ich hab der Lilli gesagt, ich hab nix anderes gesehen, hab der Lilli gesagt: „Lilli schau, sie hat eine Handtasche.” So verschwunden war das, dass mir eine Handtasche wie ein Wunder erschien. Können Sie sich das vorstellen? So ein Elend. So ein Elend war doch überhaupt noch nicht da. Das war kein irdisches Dasein. Ich hab das immer als Nichtirdisches empfunden.
Ineke van Dam: Wie lange waren Sie noch im Konzentrationslager?
Ich war 3. 4. [1944] in Auschwitz, vom 3. April bis, also bis 27. Jänner [1945]. Also es waren zehn Monate.
Und wie alt waren Sie, wenn ich das fragen darf?
Dann waren wir wieder am Tag wo die, am Jahrestag wo die Stella, wo die Stella gegangen ist, am 27. April. Der 27. ist überhaupt ein schicksalhafter Tag für mich. Der 27., im guten und im schlechten Sinn, ist ein Schicksalstag immer für mich gewesen. Am 27. April sind wir, sind wir einwaggoniert worden und in alle, in diese Länder zurückgebracht worden, wovon man uns deportiert hat. Also bin ich nach Jugoslawien gekommen mit meiner Schwester.
Franz Kalab: Zehn Monate warn Sie...
Am 27. April 1945.
Das war’n dann zehn Monate?
Nein. Das war schon länger. Am 27. Jänner bin ich befreit worden. Aber ich bin noch in Auschwitz gewesen.
Und die Zeit bis, also bis zur Befreiung...
Bis zur Befreiung waren es zehn Monate. Natürlich, ja, ja. In deutscher Gefangenschaft vom 21. März in 44 bis 27. Jänner 45. Also es waren, es waren, zehn Monate.
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Stellen, Sie sich vor. Wo jeder, jeder, jede Sekunde eine Lebensgefahr ist. Müsst Ihr geh’n?
Aber es war sehr gut, dass wir heute einmal sehr wenig geredet haben,
Hoffentlich, hoffentlich habe ich nicht, habe ich mich nicht blamiert mit meinen Erzählungen. Wollten Sie hören, was in Auschwitz war. Nein, überhaupt. Zeit, Zeitzeugen ist ganz gut zu hören, Ist ganz gut, ja.
Das war sehr gut...
Ja, Ja ...
Ineke van Dam: ’S ist gut, dass Sie’s nicht gewusst haben, dass der Franz das aufnimmt.
Franz Kalab: wenn die Frau Begov das gewusst [hätte]... [Der laufende Rekorder stand vor ihr auf dem niedrigen Wohnzimmertisch in der Berggasse in Wien.]
- Lucie Begov †1990:
- „Mit meinen Augen. Botschaft einer Auschwitzüberlebenden” 1983
- „In Auschwitz war mir Gott ein Sakrileg.” Transkript 1986
- „Das kann doch nicht Dein Ernst sein”
- Aktion „Christen für Juden”
- „Antisemitismus bedroht die nichtjüdische Welt”
- „Wenn da ein Hitler kommt, schlittern sie in ein neues Abenteuer”
- „Das Feindbild Jude hat sich seit zweitausend Jahren hundertmal geändert”
- „Antisemitismus hemmt die humane Entwicklung”
- „Das erste Wunder meines Überlebens”
- „Wie ich gebetet hab”
- „Ich bin hundertmal gerettet worden”
- „Silvesternacht 1944 / 1945”
- „Merkwürdigerweise habe ich logisch gedacht, bis zuletzt.”
- „Das war eine Art Auferstehung”
- „Nachrichten von Gläubigen aus Wien-Hietzing” 1983 - 1986
- Oskar Kokoschka 1886 - 1980
Kleine Anthologie